1980: Der Skandal von Ingolstadt
Wiederentdeckt in Dokumenten des Fliederlich-Archivs
Heute erscheint es als Selbstverständlichkeit, dass queere Vereine und Einrichtungen rechtlich abgesichert agieren. Das war nicht immer so, wie der Blick in die noch gar nicht so ferne Vergangenheit zeigt. Auch kann die Kenntnis von damaligen Geschehnissen helfen, das Erreichte zu wahren und – als Ansporn und Mahnung zugleich – vor rückwärtsgewandten Kräften zu schützen.
Erste eingetragene queere Vereine
Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts: In ganz Deutschland beantragen Schwulengruppen und Homosexuelleninitiativen verstärkt die Eintragung in die amtlichen Vereinsregister. Auch Fliederlich, 1978 zunächst als Schwulengruppe gegründet, erhält 1981 den Bescheid über die erfolgreiche Eintragung in das Vereinsregister beim Amtsgericht Nürnberg und tritt seither als Fliederlich e. V. auf.
Was in Nürnberg und andernorts problemlos gelingt, stößt im oberbayerischen Ingolstadt auf unerwartete Widerstände. Die Folge: Ein überregional beachteter Skandal, in dem auch damalige Fliederlich-Aktivisten involviert waren.
Ein amtlicher Kämpfer für Sitte und Moral
1980 hatte sich mit dem „Verein sexuell Gleichgesinnter Ingolstadt (VSG)“ eine neue Gruppe gegründet. Um Rechtsfähigkeit zu erlangen, beantragte sie sogleich die Eintragung in das Vereinsregister beim Amtsgericht Ingolstadt. Vorgelegt wurde dazu die Vereinssatzung, gleichlautend verfasst wie jene des schon bestehenden VSG München. Doch während die Eintragung in München gelungen war, erhielten die Ingolstädter schon nach wenigen Wochen einen Ablehnungsbescheid.
Ein Bescheid, der es in sich hatte: In seinen Ablehnungsbegründungen sah sich der zuständige Rechtspfleger am Amtsgericht Ingolstadt dazu berufen, das abendländische Fähnchen von Moral und Anstand ganz hoch zu halten. So könne es für ihn homosexuelle Vereine schon allein deshalb nicht geben, weil es sich nach Einschätzung „in den weitesten Kreisen der Bevölkerung“ bei gleichgeschlechtlicher Betätigung tatsächlich um „eine Abartigkeit handelt.“ Denn Sexualität sei, so der brave Rechtspfleger weiter, „ein Instrument der Fruchtbarkeit und dient der Erhaltung des Menschengeschlechtes; gleichgeschlechtliches Tun ist stets zur Unfruchtbarkeit verurteilt, ist wider der menschlichen Natur und widerstrebt gesundem natürlichen Empfinden.“ So die damalige Argumentation.
Dieser Bescheid mit Formulierungen aus finsteren Zeiten wurde nicht widerspruchslos hingenommen. Auf Initiative des VSG München wurden aus ganz Deutschland von Vereinen und Parteien Protestschreiben und Solidaritätsbekundungen nach Ingolstadt geschickt. Auch Pressemedien wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichteten über das seltsame Rechtsverständnis am Ingolstädter Amtsgericht.
Der verbotene Fliederlich-Infostand
Die Schwulengruppe Fliederlich schloss sich den Protesten an. Um das diskriminierende Geschehen auch für die Ingolstädter Bevölkerung sichtbar zu machen, beantragten die Nürnberger Aktivisten eine Sondernutzungsgenehmigung für einen Informationsstand in der Ingolstädter Fußgängerzone. Wie erwartet und befürchtet, wurde dieser zweimalig abgelehnt. Auch das zuständige Referat der Stadt Ingolstadt begründete seine Ablehnung wortreich und ganz im Geiste des Amtsgerichts: „Bei der Aufstellung eines Informationsstandes zu Fragen der Homosexualität ist in der stark frequentierten Fußgängerzone mit erheblichen Menschenansammlungen um diesen Stand zu rechnen.“ So der amtliche Verfasser. Weiter hieß es: „Aufgrund der Tatsache, daß die Allgemeinheit Homosexualität als unsittlich ablehnt, ist die Stadt Ingolstadt im Interesse der Allgemeinheit verpflichtet, das Sittlichkeitsempfinden der Bevölkerung durch eine Versagung des Informationsstandes zu wahren.“ Es folgte der Hinweis, dass sich „sittlich verletzt fühlende Personen“ zu Beleidigungen oder Tätlichkeiten hinreißen lassen könnten. Und letztendlich galt es auch, Kinder und Jugendliche vor „derartigen, unmittelbaren Konfrontationen zu schützen.“
Protestaktion in der Fußgängerzone
Das konnte und wollte Fliederlich so nicht stehen lassen. Ein nahegelegenes Bündnistreffen der süddeutschen Schwulengruppen (Rosa Frosch) nutzten die Fliederlinge, um der Ingolstädter Fußgängerzone dennoch einen Besuch abzustatten. Friedlich und singend verteilten sie informierende Flugblätter und kamen mit Wahlkämpfern an verschiedenen Parteienständen ins Gespräch. Mit Transparenten wie „Ingolstadt sperrt Schwule aus" informierten sie die Vorbeikommenden über das Infostand-Verbot. Die amtlich fantasierten Tumulte blieben gänzlich aus.
Im Anschluss an das Geschehen gab es noch ein klärendes Gespräch zwischen den Fliederlich-Aktivisten und Mitgliedern des VSG Ingolstadt. Hatten sich diese doch aus Angst vor möglichen Folgen für ihre Gruppe von der Aktion öffentlich distanziert und vorab die Ingolstädter Behörden sogar vor den anreisenden Franken schriftlich gewarnt.
Man trennte sich einvernehmlich, und auch die breite Ingolstädter Bevölkerung schien durch die Fliederlich-Aktion nicht spontan der homosexuellen Unsittlichkeit verfallen zu sein. Letztendlich musste die Stadt Ingolstadt sogar einen Gebührenbescheid von 54 DM an Fliederlich aufgrund eines Formfehlers zurücknehmen.
Ingolstadt wird doch noch queer
Über die weitere Entwicklung des VSG Ingolstadt sind im Fliederlich-Archiv leider keine weiteren Informationen vorhanden. Erst 1994 gab wieder Kontakte zu einer Ingolstädter Schwulengruppe namens „Romeo und Julius“ – mit einem ordentlichen e. V. am Ende. Diese Gruppe existiert noch heute.
Ebenfalls ein eingetragener Verein ist „Queer Ingolstadt“, seit 2019 verantwortlich für den „CSD Ingolstadt“. Mittelpunkt der jährlichen Veranstaltung ist der Ingolstädter Rathausplatz – Absenderadresse der Infostand-Verbote von 1980.